Nebel im August
Filmbewertung: überzeugend
Starttermin: 29.09.2016
Regisseur: Kai Wessel
Schauspieler: Ivo Pietzcker, Sebastian Koch, Thomas Schubert
Entstehungszeitraum: 2016
Land: D/ A
Freigabealter: 12
Verleih: Studiocanal
Laufzeit: 126 Min.
Der Tod kam mit dem Himbeersaft
Ernst Lossa (Ivo Pietzcker) ist ein frischer, aufgeweckter Junge. Eigentlich will er mit seinem Vater nach Amerika, an den Michigan-See, denn er träumt von den frei lebenden Indianern. Doch dann wird Ernst in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert. Es werde ihm gut gehen, verspricht der untersuchende Arzt und Anstaltsleiter, der sich seinen Rücken zeigen lässt. Er ist voller Striemen. In vorherigen Heimen wurde Ernst offensichtlich geprügelt, er wehrte sich gegen Ungerechtigkeiten, ließ sich nichts gefallen. Nachdem ihm die Haare geschoren worden sind, sieht man ein Foto des wahren Ernst Lossa, dessen Schicksal der Film erzählt. Es ist ein berührendes Bild, das vom Los Hunderttausender während der NS-Zeit erzählt. Lossa wurde 1944 in Irsee bei Kaufbeuren ermordet.

Gerade in jüngster Zeit wird das Wort Euthanasie immer wieder benutzt, um vor Selbsttötung im Zusammenhang mit unheilbaren Krankheiten zu warnen. "Euthanasie" bedeutet "guter Tod" und meinte in der NS-Zeit nichts anderes als die Vernichtung angeblich "unwerten Lebens". Die Volksgemeinschaft sollte gesunden, das völkische Erbgut durch die Auslese verbessert werden. Noch lange nach dem Kriegsende sah man über die gezielte Tötung von Menschen in den Nervenheilanstalten hinweg, die Täter wurden zu niederen Gefängnisstrafen verurteilt und früh begnadigt oder gar gedeckt.

Während das alles heute achselzuckend zur Kenntnis genommen wird oder als Faktum in den geduldigen Archivschränken schlummert, bricht der Film mit dem etwas sperrigen Titel "Nebel im August" (wohl in Anlehnung an Renais' "Nacht und Nebel" über die KZs) das selbstgewählte Schweigen auf. Aus Zahlen wird ein Schicksal, das berührt und gefangen nimmt.

Auch wenn hier Jugendliche die Helden sind, ist das für junge Zuschauer sicher keine leichte Kost. Ernst erfährt sehr bald, was in der Heilanstalt vor sich geht. Auch wenn der Leiter, gespielt von Sebastian Koch, einen durchaus freundlichen Eindruck macht. Bislang wurden die von höherer Warte in Berlin Aussortierten dort durch Vergasen oder Vergiften umgebracht. Der Film setzt zu jenem Zeitpunkt ein, da 1941 nach Protesten aus der Bevölkerung das Morden dezentralisiert wurde - nun waren die einzelnen Anstalten selbst für das Morden zuständig.

Wie ein schöner Todesengel bietet die Krankenschwester Edith (Henriette Confurius) ihre Dienste an. Sie reicht den Kranken erhöhte Dosen von Barbituraten im Himbeersaft und sieht dabei unter ihrer weißen Haube so schön wie Vermeers "Mädchen mit dem Perlenohrring" aus. Ernst Lossa, der in den Diensten des Krankenpflegers und Leichenwärters Max (Branko Samarovski) steht, lässt sich davon nicht täuschen. Er schließt sich stattdessen mit Schwester Sophia (Fritzi Haberlandt) zusammen, die ihre Patienten vor dem Schlimmsten bewahren will.

Es darf geträumt werden im Film, mal hoch oben auf dem Dach, wohin es Ernst mit der neu gewonnenen Freundin zieht. Flieger am Horizont wecken Hoffnungsschimmer - wo bleiben die Retter? Am Ende wird auch Ernst Lossa, der Angehöriger der Jenischen, eines fahrenden Volkes ist, ermordet. Er nennt den Anstaltsleiter "Mörder", wirft ihm die Wahrheit ins Gesicht. So wird das plötzliche Todesurteil, das wie Rache wirkt, plausibel. Am Ende wird Ernsts Freundin Nandl (Jule Hermann) im Speisesaal eine Rede halten: Ernst sei bei den Indianern, sagt sie, in Amerika. Sie wisse es bestimmt.

Dass der Film, der auf Robert Domes' 2008 erschienenem gleichnamigen Tatsachenroman über Ernst Loos beruht, um allerlei Faktenvermittlung (SS-Propaganda und Vernichtungsstrategien) nicht herumkommt, sei nicht verschwiegen. Doch all das schmälert nicht das Verdienst, eines der dunkelsten Kapitel aus der deutschen Vergangenheit sehr anschaulich ans Tageslicht gebracht zu haben.

Von Wilfried Geldner