Schauspieler Edgar Selge im Interview
"Dass wir von Konzernen regiert werden, muss man aufdecken"
Steht er vor der Kamera, kann der Zuschauer fast sicher sein: Hier spielt sich Bedeutendes ab. Edgar Selge, bekannt geworden als einarmiger Münchner "Polizeiruf"-Kommissar Tauber, reüssiert seit Jahren in Fernseh- und Kinofilmen mit gesellschaftlicher Relevanz respektive politischer Schlagkraft. Ob als sündiger Prediger in "So auf Erden" (2017), als Golo Mann in "Das Geheimnis der Freiheit" (2020) oder in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam in der Houellebeq-Verfilmung "Unterwerfung" (2018): Die Lust zum Stoff mit Gewicht merkte man Selge, dem leidenschaftlichen Theaterdarsteller und intellektuellen TV-Schwergewicht, zuletzt immer mehr an. Konsequenterweise widmet sich der 72-Jährige nun in seinem neuen Film "Ökozid" (Mittwoch, 18. November, 20.15 Uhr, ARD) kammerspielartig einer Klimawandel-Dystopie - als vorsitzender Richter in einem folgenreichen Prozess: Die Bundesrepublik ist in naher Zukunft angeklagt, zu wenig gegen die Folgen der Erderwärmung unternommen zu haben. Was sich ändern muss, damit es nicht so weit kommt, welche Verantwortung seine Generation trägt, und was wir aus der Corona-Krise lernen können, erklärt Selge im Interview.

AZ: Sagte Ihnen der Begriff "Ökozid" etwas, bevor Sie das Drehbuch zum Film lasen?

Edgar Selge: Nein, den kannte ich nicht. Aber der lässt sich ja leicht erschließen: Die Zerstörung und der Tod der ökologischen Gesundheit der Erde.

AZ: Nach Filmen wie "Unterwerfung" oder "Das Geheimnis der Freiheit" widmen sie sich nun abermals einem hochpolitischen und gesellschaftlich relevanten Thema. Halten Sie bewusst Ausschau nach derlei Stoffen?

Selge: Ja. Das Thema interessierte mich sehr. Eigentlich wollte ich gar nicht drehen in dieser Zeit. Aber dann dachte ich: Da musst du mitmachen! Das ist so ein Stoff, wo man froh sein kann, dabei zu sein. Außerdem haben sich mit dem Regisseur Andres Veiel gleich intensive Gespräche zum Stoff ergeben. Die Kommunikation ist auf Anhieb angesprungen. Es ist auch reizvoll, wenn die Psychologie einer Rolle eher in den Hintergrund tritt und die Sachfragen interessanter und wichtiger werden.

AZ: Welche Rolle spielten Klima- und Umweltschutz in Ihrem Leben bislang?

Selge: Das Thema ist immer präsent, das geht Jahrzehnte zurück. Es spielte immer eine Rolle mit Blick auf die Ernährung und die Gesundheit. Seit den 70er-Jahren und den Demonstrationen gegen Atomenergie und Atommüll. Tschernobyl war dann der erste Höhepunkt. Die Bewegung Fridays for Future hat allerdings eine neue Qualität.

AZ: Ihre Generation rief die Umweltbewegung ins Leben - und wird von den Jungen zugleich beschuldigt, verantwortlich für den Klimawandel zu sein. Was macht man mit diesem Widerspruch?

Selge: Dieser Vorwurf ist nicht so falsch. Meine Generation hat noch zu wenig getan und der Politik zu sehr vertraut, denke ich. Trotzdem sehe ich das weniger als Generationenkonflikt. Es ist ein Konflikt zwischen weiten Teilen der Bevölkerung, den politischen Institutionen und der Industrie. Wir müssen uns fragen, ob die politische Kraft der Grünen, die ja eine Bewegung meiner Generation ist, ausreicht, um den Klimawandel zu stoppen.

AZ: Aufgrund ihres Nicht-Handelns in der Klimapolitik wird die Bundesrepublik im Film von Vertretern der Dritten Welt verklagt. Wäre eine solche Schuld überhaupt wiedergutzumachen?

Selge: Es ist ein nicht entschuldbares Vergehen. Und es bedeutet, Verantwortung dafür zu übernehmen. Trotzdem muss man in die Zukunft schauen und praktisch überlegen, welche Konsequenzen man politisch und persönlich zieht, damit sich wirklich etwas verändert.

"Der Vorwurf richtet sich an die Politik der Bundesrepublik"

AZ: "Ökozid" zeigt eindrücklich auf, was passieren könnte, wenn sich nichts verändert. Wussten Sie um die im Film gezeigten politisch-ökonomischen Zusammenhänge?

Selge: Das war und ist mir schon bewusst. Das ist ja gerade der Albtraum der Klimaveränderung, dass man weiß, was auf einen zukommt, und trotzdem im Stillstand verharrt. Was ich nicht wusste, war das Ausmaß der Kumpanei zwischen Politik, Energiewirtschaft und Automobilbranche. Quer durch die Parteien und Gewerkschaften wurde an einem undifferenzierten Wachstumsbegriff festgehalten. Unter dem Vorwand, Arbeitsplätze erhalten zu wollen, hat man die CO2-Vorgaben aus Brüssel einfach systematisch unterlaufen. Diese Fakten öffnen die Augen - insofern halte ich "Ökozid" für einen revolutionären und kühnen Film.

AZ: Welcher Vorwurf wiegt am schwersten?

Selge: Der Vorwurf richtet sich an die Politik der Bundesrepublik. Sie hat ihre Interventionen in Brüssel, mit denen sie die Klimavorgaben blockiert hat, nicht offengelegt. Sie ist doppelzüngig gewesen. Einerseits geben Frau Merkel und andere Politiker vor, dass ihnen nichts mehr am Herzen liegt als die Verminderung des CO2-Ausstoßes und das Dreiliterauto. Was sie jedoch tun und mit den Konzernen verhandeln, entspricht dieser Haltung keiner Weise.

AZ: Glauben Sie, es gäbe in diesem Wirtschaftssystem ein alternatives Vorgehen?

Selge: Die Politik müsste mindestens offenlegen, wie schwierig bis unmöglich es ist, die Autoindustrie zu zwingen, die politischen Vorgaben einzuhalten. Das wäre notwendig, damit man überhaupt Position beziehen kann. Man kann doch als Politiker durchaus zugeben: Ich bemühe mich - aber ich schaffe es nicht. Dass wir von Konzernen regiert werden, muss man aufdecken, sonst kann man nichts ändern.

AZ: Dazu die alte Frage: Wie viel Verantwortung trägt der Einzelne?

Selge: Als Individuum in einer offenen Gesellschaft kommt man nicht herum, sich zu informieren und Verantwortung zu übernehmen. Man kann sein persönliches Kaufverhalten ändern, man kann persönlich weniger fossile Energie in Anspruch nehmen. Auf der anderen Seite: Wir alle bemühen uns um Mülltrennung, wissen aber, dass nur etwa fünf Prozent des weggeworfenen Plastikmülls in Deutschland recycelt werden. Das schwächt die Motivation des Einzelnen, umweltbewusst zu handeln. Hier ist also die Politik gefordert.

"In der Corona-Pandemie ist ein enormer Lerneffekt eingetreten"

AZ: Zweifeln sie daran, ob man mit Umwelt- und Klimathemen inzwischen politische Mehrheiten findet? Im dystopischen Szenario des Films werden die Mehrheitsverhältnisse sehr ernüchternd dargestellt.

Selge: Man kann das gut an der SPD sehen: Deren Umfragewerte und Wahlergebnisse sind abgerutscht - gerade weil sie sich nicht bemüht, ihre Klientel auf ein stärkeres Umweltbewusstsein einzuschwören. Sie beschränkt sich darauf, den Besitzstand kleiner und mittlerer Einkommen zu wahren. Sie schützt Arbeitsplätze. Aber eben auch im Bereich fossiler Brennstoffe, anstatt radikal für erneuerbaren Energien zu werben. Im Vergleich zu den Grünen wirkt die SPD wie eine Partei, die ihre Wähler vor der Notwendigkeit des Umweltschutzes bewahren möchte. Und das macht sie Hand in Hand mit den Gewerkschaften. Beiden hat das nichts genützt.

AZ: Dennoch: Verstehen Sie die Leute, die Klimapolitik für Luxus halten und die Arbeitsplätze in der Kohleindustrie schützen wollen?

Selge: Nein, das ist nicht zu verstehen: Die Zahl der durch erneuerbare Energien geschaffenen Arbeitsplätze ist um ein vielfaches höher als die Arbeitsplätze in der Kohleindustrie. Das ist politisch und medial noch viel zu wenig vermittelt.

AZ: In der Corona-Krise hieß es nach einer Weile: Es geht doch, wir können alles herunterfahren, wenn wir wollen. Glauben Sie, dass wir daraus lernen können?

Selge: Unbedingt. Ich denke, in der Corona-Pandemie ist ein enormer Lerneffekt eingetreten. Von heute auf morgen hat sich sehr viel geändert. Auch die Nachteile globaler Lieferketten sind uns bewusst geworden. Es ist eine positive Erfahrung, dass man sein Verhalten in der Gemeinschaft so schnell ändern kann.

AZ: Auch der Dreh zu "Ökozid" fand während der Corona-Pandemie statt. Wie lief das ab?

Selge: Es gab regelmäßige Tests und Leute, die darauf achteten, dass sich alle die Hände waschen. Ein bisschen wie im Kindergarten, aber das macht ja nichts (lacht). Außerhalb des Sets musste eine Maske getragen werden, auch alle Beteiligten hinter der Kamera mussten eine tragen. Es wurde auf Abstände geachtet und es gab Trennfolien. In der Geschichte dieses Films geht es aber nicht um körperliche Nähe - insofern war das kein Problem.

AZ: Wie verbrachten Sie die letzten Monate sonst?

Selge: Ich schreibe an einem Buch über die 50er-Jahre, es soll im nächsten Herbst fertig werden. Deshalb war ich zunächst über den Lockdown gar nicht so unglücklich. Aber ich sehe auch, was das für meine Kollegen bedeutet. Insbesondere für die frei arbeitenden Künstler ist das eine Katastrophe. Ich sehe das an unseren Kindern, die frei im Bereich Tanz und Schauspiel arbeiten. Das ist schon eine unglaubliche Herausforderung.

AZ: Kann die Kultur im Corona-Lockdown neue Ansätze ausprobieren?

Selge: Die Formen unseres kulturellen Ausdrucks müssen insgesamt auf den Prüfstand: Was brauchen wir überhaupt? Was wollen wir unbedingt? Worauf wollen wir nicht verzichten? Wie kommen wir aus unserem elitären Turm heraus?

Von Maximilian Haase